Christian Erny

Interview Paul Mealor

„Es ist ein Stück über innere Überzeugung, darüber, fest zu dem zu stehen, woran man wirklich glaubt, was auch immer das sein mag. Und darüber, bereit zu sein, alles aufs Spiel zu setzen für das, was man für richtig hält. Ich glaube, darum geht es wirklich in diesem Stück.“

Liebe Freundinnen und Freunde

Heute, am 4. Oktober 2024, veröffentlichen die Zurich Chamber Singers und ich ein neues Album, in dessen Zentrum die Choroper The Light of Paradise des gefeierten britischen Komponisten Paul Mealor steht. Gemeinsam mit dem sonic.art Saxophone Quartet haben wir dieses brandneue Werk im Januar 2024 uraufgeführt und aufgenommen. In diesem exklusiven Interview habe ich mit Paul über dieses besondere Stück, seine musikalische Ausbildung und seine Gedanken darüber, Komponist im 21. Jahrhundert zu sein, gesprochen. Viel Vergüngen beim Lesen!

Christian Erny: Paul, wir haben lange auf diesen Tag gewartet, denn heute erscheint endlich die Aufnahme deines neuen Werks The Light of Paradise. Was ist die Geschichte hinter diesem neuen Stück, und was macht es für dich besonders?

Paul Mealor: Nun, es gibt viele Dinge, die es besonders machen. Erstens ist es vielleicht das größte Chorwerk, das ich je geschrieben habe. Ich habe größere Werke geschrieben, aber das waren entweder Opern oder sinfonische Werke. Aber dieses gut einstündige Chorwerk ist das größte in dem Genre, was ich bis anhin gemacht habe. Es ist auch eine Art Hybridstück. Es ist nicht wirklich ein Chorwerk, und es ist auch keine Oper. Es ist eine Mischung aus all diesen Dingen, also habe ich es als „choral opera“ bezeichnet. Es gibt vierzehn Sätze, die ich in diesem Stück als „Devotions“ (dt. Andachten) bezeichne. Für mich ist es eine ganz neue Art, ein Chorwerk zu strukturieren. Es gibt einige Stücke anderer Komponisten, die dem nahekommen, aber ich kenne bis jetzt eigentlich nichts wirklich vergleichbares. Also denke ich, dass es in vielerlei Hinsicht neu ist, nicht nur für mich.

Oh, für alle, ja! Es ist auch ungewöhnlich wegen der Geschichte, die es erzählt…

Ja, das Thema ist unglaublich wichtig. Margery Kempe, von der The Light of Paradise handelt, war eine mittelalterliche englische Mystikerin, und das Stück basiert auf ihren eigenen Schriften, The Booke of Margery Kempe. Es ist die erste Autobiografie einer Frau, die je veröffentlicht wurde. Das allein macht es unglaublich bedeutend. Das Stück behandelt ihr Leben, das sie im Buch beschreibt, und ihre Verfolgung durch die Kirche, weil sie eine Frau war, ihre Liebe zur Dreifaltigkeit und ihre tatsächliche, wie sie glaubte, enge Beziehung zu Jesus Christus – so eng, dass sie ihn heiratet. Eigentlich heiraten zwar alle Nonnen die Kirche und ihren Gott, aber sie glaubte, eine physisch persönliche Beziehung zu Christus zu haben. In vielerlei Hinsicht ist das Thema wirklich außergewöhnlich. Ich habe mich vorher noch mit nichts vergleichbarem beschäftigt.

Die Geschichte von Margery Kempe ist keine einfache und muss aus verschiedenen Blickwinkeln verstanden und betrachtet werden.

Ich denke, du hast recht. Dies ist die erste musikalische Auseinandersetzung, wenn wir damit anfangen, mit Margery Kempe überhaupt. Und das ist nicht überraschend, weil sie über Jahrhunderte hinweg eine unglaublich kontroverse Figur war. Erst im 20. Jahrhundert durften Frauen wirklich ihre eigene Stimme haben. Davor mochte die Kirche und die Gesellschaft es nicht, wenn Frauen Meinungen hatten, schon allein aus diesem Grund war sie umstritten. Es ist nicht überraschend, dass es bis jetzt noch keine musikalischen Auseinandersetzungen mit ihr und ihren Schriften gegeben hat.

Für mich ist es wichtig, dass dein Werk nicht als sakrale Musik gesehen wird, sondern als menschliches Drama. Welche Aspekte sind dir wichtig, dass das Publikum sie versteht?

Oh ja, das ist ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Stücks – es ist, wie du sagst, nicht wirklich sakrale Musik. Es ist eigentlich gar keine Kirchenmusik. Es gibt nur ein paar Sätze, die man in einem Gottesdienst aufführen könnte; die meisten würde man gar nicht wagen, weil sie einfach nicht passen würden. Was ich tun wollte, weil das Buch ihr Leben beschreibt, das eine Reise von Schmerz, Akzeptanz und Gebet ist, war, ein Musikstück zu schaffen, das sich ebenfalls wie eine Reise anfühlt. Während ich darüber nachdachte, begann ich auch an die Kreuzwegstationen zu denken, den eigenen Weg Christi, der eine Reise des Schmerzes hin zu seinem Tod ist. Ihr Buch spiegelt dies in gewisser Weise wider. Diese beiden Parallelen schienen mir als wichtige Strukturierung des Stücks zu dienen. Die 14 Sätze symbolisieren so die Kreuzwegstationen. Es ist eine Reise. Wenn ich das Publikum in das Werk einführen würde, würde ich sie bitten, sich vorzustellen, diese Frau im 15. Jahrhundert zu sein, die plötzlich erkennt, dass sie etwas zu sagen hat – dass sie Christus und die Religion auf eine sehr andere Weise sieht als die Männer um sie herum. Zu dieser Zeit war es nicht erlaubt, solche Ansichten zu äußern, aber sie tat es. Die Stärke, die sie auf dieser Reise in ihrem Glauben sammelt, darum geht es in diesem Stück wirklich.

Heute müssen wir das natürlich auch aus einer modernen Perspektive betrachten und kritisch hinterfragen, was sie sagt.

Ich denke, du hast recht. Wir betrachten es mit einer gewissen Skepsis und stellen kritische Fragen. Aber wir müssen sehen, dass das, was sie geschrieben hat und was sie sagt, in ihren Augen die Wahrheit ist. Sie glaubt so fest an das, was sie sagt, dass sie bereit ist, dafür zu sterben. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass es die Wahrheit ist. Du hast also recht; wir müssen sie hinterfragen, und das tun wir auch in diesem Stück. Das Stück selbst stellt sie in Frage. Wie jedes gute und gehaltvolle Musikstück sollte es für verschiedene Interpretationen offen sein. Man sollte dieses Stück hören können, ohne sich indoktriniert zu fühlen. In vielerlei Hinsicht geht es in diesem Stück eigentlich nicht wirklich um Glauben. Es geht um innere Überzeugung, darum, fest zu dem zu stehen, was man wirklich glaubt, was auch immer das sein mag, und bereit zu sein, alles aufs Spiel zu setzen für das, was man für richtig hält. Ich denke, darum geht es in diesem Stück wirklich.

The Zurich Chamber Singers | Foto: Sandu Cucui

«Ich dachte zuerst, ich sei dazu bestimmt, Priester zu werden, aber die Welt ist dankbar, dass daraus nichts wurde!»

Das Schreiben von Chormusik war schon immer ein wichtiger Teil deiner Karriere. Wie hat sich deine starke Verbindung zur Chormusik entwickelt?

Tatsächlich klingt die Geschichte, die ich dir jetzt erzähle, ein bisschen wie ein Kapitel aus Margery Kempe’s Buch. Es ist ein wenig surreal. Als Kind war ich hyperaktiv und musste Medikamente nehmen, um mich zu beruhigen. Etwas, das meine Familie für hilfreich hielt, war, mich viel draußen zu beschäftigen, was ich auch heute noch gerne tue. Mein Bruder, der viel älter ist als ich, nahm mich oft mit aufs Land. Einmal, als ich etwa neun Jahre alt war, standen wir an einem See in Wales. Ich konnte nicht stillstehen und wollte das Wasser erkunden – mein Bruder war gerade nicht zur Stelle und ich fiel hinein. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht schwimmen, ich ging unter. Ich erkannte, dass ich nicht herauskommen würde, dass ich sterben würde. Und ein erstaunliches Gefühl überkam mich, eines, das ich nie wieder gespürt habe – eine Art innere Wärme, dass das, was gleich passieren würde, nicht so schlimm sei. Es fühlte sich fast unvermeidlich an, wie ein Übergang in etwas anderes, etwas schönes. Es war ein sehr seltsames Gefühl. Jedenfalls wurde ich gerettet, wie du durch dieses Interview feststellen kannst (lacht). Als meine Eltern kamen, um mich zu finden, erzählte ich ihnen, was passiert war. Ich fand damals nicht die Worte, es zu beschreiben, aber ich wollte verstehen, was dieses Gefühl war. Mein Vater sagte, das Einzige, was ihm einfiel, war, mich in die Kathedrale zu bringen, um mit dem Dekan zu sprechen. Als wir in die Kathedrale gingen, probte der Chor gerade. In diesem Chor hörte ich die Wärme, die ich im Fluss gespürt hatte. Als ich also den Dekan traf, erzählte ich ihm all das und dass ich gerne dem Chor beitreten würde. Ich dachte zuerst, ich sei dazu bestimmt, Priester zu werden, aber die Welt ist dankbar, dass daraus nichts wurde – ich hätte einen schrecklichen Priester gegeben (lacht). Also trat ich dem Chor bei. Wir sangen drei Gottesdienste am Tag. Dann lernte ich Klavier und Orgel, ebenso Posaune und Cello, und ich nahm Gesangsunterricht. So fing alles an.

Eine faszinierende Geschichte. Und ziemlich ungewöhnlich – ich hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet.

Ja, sehr… Aber für mich fühlte es sich nicht ungewöhnlich an.

«In einem Chor kannst du nichts verstecken. Jeder einzelne Ton, jede einzelne Geste, jede einzelne Linie ist sofort für jeden mit einem anständigen Gehör erkennbar.»

Brahms sagte, Chormusik zu schreiben sei etwas vom Schwierigsten überhaupt für ihn. Welche besonderen Herausforderungen birgt dieses Genre für dich?

Für mich brachte dies der große finnische Komponist Magnus Lindberg auf den Punkt. Ich hatte als Student ein paar Lektionen bei ihm. Er war ein großartiger Komponist für Orchestermusik und ein unglaublich intelligenter Mensch. Ich zeigte ihm meine Chormusik, und er sagte: „Ich finde es sehr schwierig, für Chor zu komponieren, weil es keine Möglichkeit gibt, sich zu verstecken.“ Damals verstand ich nicht ganz, was er meinte, weil ich erst 18 war, aber jetzt verstehe ich es. In einem Orchester kannst du Texturen kreieren, die im Gesamtklang etwas verschwinden. In einem Chor kannst du nichts verstecken. Jeder einzelne Ton, jede einzelne Geste, jede einzelne Linie ist sofort für jeden mit einem anständigen Gehör erkennbar. Wenn du also für einen Chor schreibst, musst du wirklich wissen, was du tust.

Oh ja. Stimmen haben einen Umfang und Einschränkungen, die Orchesterinstrumente in gewisser Weise nicht haben…

Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht an die Grenzen gehen kann. Man kann Chöre an ihre Grenzen bringen, was ich denke, wir in diesem Stück auch tun. Aber ich denke, das Verständnis von Gestik, Harmonie, Atmung, Kontrapunkt, davon, wann Stimmen am stärksten sind, wann sie nicht so stark sind, wie man Worten und Rhetorik Bedeutung verleihen kann – über all diese Dinge muss man sich bei einem Orchester nicht ganz so viele Gedanken machen. Und natürlich musst du dich mit der Sprache auseinandersetzen und mit all den riesigen Herausforderungen, die mit Sprache einhergehen.

Die Diskussion darüber, was neue Musik ist oder sein sollte, ist oft kontrovers und emotional aufgeladen. Es gibt einige Leute in der zeitgenössischen Musik-Szene, die deinen Stil ablehnen würden. Wo, deiner Meinung nach, steht die moderne Musik derzeit, und was braucht es, um heute als Komponist seine eigene Stimme zu finden? Was ist dir wichtig, wenn du ein neues Stück schreibst?

Als ich aufwuchs, fühlte ich mich immer zum Singbaren hingezogen. Zu Linien, die von Harmonien getragen werden, die dich als Sänger gut fühlen lassen. Und natürlich war ich auf der Suche nach dieser Wärme, die ich zu Beginn erwähnt habe. Als ich in den 80er und 90er Jahren Student war, durfte man keine tonale Musik schreiben – man musste serielle Musik schreiben. Und ich mochte serielle Musik nie; ich fühlte mich nie dazu hingezogen. Es gibt zwar tolle Werke von Schönberg und Berg, die ich schätze, insbesondere ihre freieren Ansätze zum Serialismus. Aber ich wollte nicht diese Art von Musik komponieren. Schliesslich hatten das auch schon andere getan. Ich wollte mit Tonalität und Diatonik arbeiten und meinen eigenen Weg darin finden.

Und du hast ihn gefunden – wie war dieser Weg?

Zu meinen Studienzeiten mochten viele Leute nicht, was ich tat. Ich habe keine Wettbewerbe gewonnen oder ähnliches, weil die Wettbewerbsstücke sehr avantgardistisch sein mussten. Aber ich habe es geschafft, ein Publikum zu finden, das mochte, was ich schrieb. Ich war ziemlich überrascht, weil das als Student nicht der Fall war. Ich beschloss, diese Musik weiterzuschreiben, unabhängig von der Kritik. Ja, es gibt Ultramodernisten, die vielleicht nicht schätzen, was ich tue, aber oft schätze ich umgekehrt ihre Arbeit, wenn sie gut gemacht ist. Ich denke, im 21. Jahrhundert sollten wir in der Lage sein, Stockhausens Inori zu hören und von dessen Dimmension von Raum und Zeit beeindruckt zu sein, und gleichzeitig zu Arvo Pärts Fratres zu wechseln und die Schönheit der Einfachheit zu schätzen. Ich glaube, man sollte als intelligenter Mensch beides und alles dazwischen schätzen können. Die Leute verfangen sich oft in ihren eigenen kleinen Welten und denken, dass nur das, was sie tun, von Bedeutung ist, aber das ist nicht der Fall. Das ist meine Haltung dazu.

Noch einen Schritt weiter gedacht: Du bist seit vielen Jahren Professor für Komposition. Was lehrst du deine Studenten? Ich nehme an, es gibt einen schmalen Grat zwischen Einflussnehmen und der Gefahr, dass am Schluss alle wie Paul Mealor klingen.

Ich denke, ein gutes Zeichen für jeden Kompositionslehrer ist, wenn seine Schüler nicht wie er selbst klingen. Nadia Boulanger ist ein großartiges Beispiel für eine Lehrerin, deren viele Schüler alle nicht wie sie klangen, was eine erstaunliche Leistung ist.

Also, was kannst du unterrichten?

Nun, du kannst niemanden lehren, Komponist zu sein. Du kannst niemanden lehren, Schriftsteller zu sein. Du kannst niemanden lehren, Tänzer zu sein. Das geht einfach nicht. Was du lehren kannst, ist Technik. Ich kann ihnen helfen, dem Material, das sie mir zeigen, eine Form zu geben. Ich versuche nie, die Stimme von jemandem zu ändern. Was ich tue, ist, ihnen zu helfen, ihren Weg dadurch zu finden, was sie mir geben. Es gibt so viele Dinge, die du tun kannst. Wofür entscheidest du dich? Ich versuche sicherzustellen, dass wir das, was auch immer sie entschieden haben zu verwenden, auf die bestmögliche Weise nutzen. Ich ermutige sie auch, Musik zu hören, viel zu lesen, sich für die Welt zu interessieren, die beste Poesie zu lesen, großartige Kunstwerke zu betrachten, herausragende Filme zu schauen, erstklassige Theaterstücke zu besuchen und sich mit führenden Wissenschaftlern und Denkern auseinanderzusetzen. Sich mit der Welt als lebendiger Teil davon auseinanderzusetzen und von ihr inspiriert zu werden, ist entscheidend. Ich glaube, das muss ein Künstler tun.

Paul Mealor | Foto: Jillian Bain Christie

Das führt uns zurück zu The Light of Paradise – als ich die Partitur zum ersten Mal öffnete, war ich positiv überrascht, wie anders sie klang im Vergleich zu dem, was ich bisher von dir gehört hatte. Erfindest du dich aktiv von Zeit zu Zeit neu?

Nein, ich denke, wenn du aktiv versuchst, das zu tun, scheiterst du. Du machst, was du machst, und es verändert sich, weil du dich veränderst, weil du älter wirst. Ich bin jetzt fast 50. Wie du die Welt siehst, entwickelt sich weiter. Und natürlich, wenn ich Vokal- und Chormusik schreibe, beeinflusst mich der Text am meisten. Wenn du Worte vertonst, musst du auf sie reagieren. Du kannst auf Margery Kempe nicht auf die gleiche Weise reagieren, wie du auf ein Ave Maria reagieren würdest. Die Musik entsteht aus dem Text. Ich habe nicht bewusst versucht, etwas anderes zu tun; es ist einfach passiert.

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Mit Paul zu arbeiten war für mich eine enorm inspirierende und erfüllende musikalische Erfahrung, und ich bin gespannt, was ihr alle über The Light of Paradise denkt.

Dieser Link bringt euch zu dem Album auf Spotify!

Hier könnt ihr die CD physisch bestellen und die Zurich Chamber Singers somit ganz direkt unterstützen!

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Herzlich,
Christian